Klar und doch geheimnisvoll muten die weißen Mauern aus Papier an, welche die Säulen des ehemaligen Winterrefektoriums umschließen und einen Raum im Raum beschreiben. Mit Präzision entfernt Simon Schubert die gegebenen charakteristischen Merkmale des Säulensaals (wie dieser Ort gemeinhin bezeichnet wird) aus dem Blickfeld, bricht die sakrale Aura des Ortes und transformiert ihn in eine Sphäre jenseits der tradierten geschichtlichen Einordnung. Damit eröffnet er eine mitunter träumerisch-suggestive, nahezu surreale Dimension, in der sich zeitliche, räumliche und schließlich örtliche Grenzen auflösen.

 

Der 1976 in Köln geborene Künstler spielt gekonnt mit stilprägenden Merkmalen von Architektur und Raumsprache, die er zu einer artifiziellen Gattung verdichtet. Obwohl Simon Schubert mitunter ganze Räume mit Papier auskleidet, in denen sich skulpturale, geheimnisvolle Federwesen vermeintlich kultischen Handlungen hingeben und gesichtslose Kinder sich in rätselhaften Spielen verlieren, bleibt die Parallelwelt, die in ihrer Surrealität an filmische Szenen eines David Lynch erinnert, doch nur partiell begehbar. Gebannt betritt der Besucher die faszinierende Architektur, die ihm auf dem Weg ins Innere jedoch stets aufs Neue Schranken setzt, da sich mit jeder hinzukommenden Betrachtung weitere Wege optisch auftun, die physisch verschlossen bleiben. Stück für Stück lockt der Künstler den Rezipienten in eine Welt, die ab einem gewissen Punkt den Rückzug aus dem Raum in die Fläche antritt, bis der Weg schließlich als mentaler Akt der individuellen Imagination doch noch vollendet werden kann.

 

Schuberts Kunstauffassung huldigt dem Barock, sie hebt die klare Trennung einzelner Kunstfelder von Architektur, Skulptur und Malerei auf. Die perspektivischen Verkürzungen und ein besonderes Augenmerk auf das Spiel mit Licht und Schatten führen zu einer nahezu illusionistischen Tiefenwirkung und Aufweitung des Raums, während die Figuren der Barockmalerei sich durch ihre Bewegungsdynamik auszeichnen und auf Farbe und Licht rekurrieren.

 

blind space, was in der deutschen Übersetzung so viel meint wie
Leerstelle / leerer aber auch unbegehbarer Raum, verbalisiert als Titel der Ausstellung klug das Spannungsverhältnis zwischen Realraum und Fiktion. Mit den Augen eines Bildhauers betrachtet Simon Schubert die zweidimensionale Fläche des Papiers, die eines seiner primären künstlerischen Gestaltungsmittel darstellt. Gleich einem Architekten konstruiert er herrschaftliche Räume, deren Attribute auf das 18. und 19. Jahrhundert und die Belle Epoche verweisen, um im nächsten Bild die verschlungenen Stufen einer auch heute noch vertrauten Wendeltreppe zu erzeugen. Allein – seine Raumzeichnungen und Innenräume, die ausschließlich mit einer bis zur Perfektion ausgebildeten Technik des Papierfaltens zum Leben erweckt werden, führen ins Nichts. Unter den Händen des Künstlers entfaltet sich das reine Weiß der papiernen Trägeroberfläche in plastisch anmutende Bildreliefs. Doch erst die Inszenierung des artifiziellen Lichts finalisiert die Räume. Die Schattenfugen an den Falzkanten entwickeln eine Bildtiefe, welche die gefalteten Linien zu verwinkelten Korridoren verwandelt. Simon Schubert selber sieht die Papierfaltungen als skulpturale Zeichnungen, die sich im Spannungsfeld von Zwei- und Dreidimensionalität bewegen. Nahezu deckenhoch ragen die Wände des künstlich geschaffenen Raums in das Gewölbe des Refektoriums hinauf. Gleich einem Spiegel werfen die Faltungen einzelne Facetten des Raums polyperspektivisch zurück, während im unteren Teil der einzelnen Paneele sich üppige Blumendekors ausbreiten. Rankendes Blattwerk und verschwenderische Blütenpracht scheinen die Stilelemente vergangener Architekturepochen zu feiern. Nüchtern mutet hingegen die Wahl des weißen Papiers an, dessen materielle Zurückhaltung die ausschweifende Pracht zu zügeln sucht.

 

Schubert reflektiert die gegebene Baukunst des Winterrefektoriums mittels De- und Rekonstruktion. Die realen Elemente des Raumes weichen einer artifiziellen Konstruktion, die als zentraler Quader den Raum okkupiert. Statt der tatsächlichen Säulen, die im Inneren des künstlerischen Raums den Blicken des Betrachters verborgen bleiben, offeriert Simon Schubert auf der Außenhaut seiner In-Situ-Arbeit einzelne Perspektiven des leeren Raumes und vertauscht damit in Stein gebaute Wahrheit mit gefalteter Erinnerung. Reale Blickachsen existieren nur noch als spiegelndes Abbild und fungieren als Gedächtnisspeicher einer realen, aber verlorenen Architektur und bilden damit eine Brücke von Vergangenem zu Gegenwärtigem. Gleichzeitig verleihen die zehn Ansichten des Winterrefektoriums der opaken Oberfläche des weißen Papiers eine gläserne Durchsichtigkeit. Durch die, zwar perspektivisch verkleinerte, jedoch axial korrekte Darstellung der Blicklinien bleibt dem Betrachter kaum ein Winkel des tatsächlichen Raumes verborgen.

 

Bereits von weitem aber weckt eine kleine, fensterähnliche Öffnung die Neugierde des Besuchers, weil sie eine Verheißung auf ein Geheimnis bedeutet, welches die Mauern des Schubert‘schen Raumes zu bergen scheint. Diese Sichtfester erweist sich als „Tor“ zu einer anderen Dimension, welche die erwartete Realität vorgibt, um sie gleichsam gegen eine andere ebenso gültige Wahrheit zu ersetzen.

 

Damit verweist Simon Schubert auf die bis ins 12. Jahrhundert andauernde Tradition der Klause, also den Wohnort eines Mönches, einer Nonne oder eines Eremiten, dessen Abgeschiedenheit u.a. durch die Lage in einer einsamen Gegend gewährleistet wurde. In der hermetisch abgeschlossene Zelle, in die sich die so genannten Klausner bzw. Klausnerinnen einmauern ließen, um in völliger Abgeschiedenheit in Demut vor Gott zu leben, stellte das Fenster die einzige Schnittstelle zwischen dem realen Leben und der inneren Einkehr dar.

 

Der „Schrein der Erinnerung“, wie der Künstler in einem Gespräch seine architektonische Konstruktion einst überaus treffend bezeichnete, verwebt eine Vielzahl von religiösen, epochalen, architektonischen aber auch literarisch- philosophischen Anspielungen und Deutungen miteinander, ohne einen eindeutigen Schwerpunkt zu setzen.

 

So werden Erinnerungen an die weltbekannte Erzählung Alice Adventures in Wonderland aus dem Jahre 1865 von Lewis Carroll wach, welche die fantastische Reise in eine andere Welt aus der Sicht der kleinen Alice schildert, in der merkwürdige Wesen und sprechende Tiere rituelle Handlungen ausführen und den gesunden Menschenverstand sowie angeeignete, stereotype soziale Verhaltensmuster (des viktorianischen Zeitalters) ad absurdum führen. Sehen wir hier das berühmte Kaninchenloch, das den Eingang in die Wunderwelt des kleinen Mädchens markiert?

 

Schuberts Fenster suggeriert ebenfalls den verheißungsvollen Eintritt in eine andere, verborgene Welt. Der Blick ins Innere führt jedoch nicht zu der erwarteten Offenbarung, sondern enthüllt vielmehr weitere Geheimnisse und wirft Fragen auf. Denn sobald das Auge den hellen Korridor wahrnimmt, stößt es gleich wieder an die nächste Barriere in Form einer angelehnten Türe, die mehr verdeckt als offenbart. Ebenso wie der literarischen Alice der weitere Zugang in die Wunderwelt aufgrund ihrer Körpergröße zunächst verwehrt ist bleibt dem Besucher von blind space nur der Blick in das Innere des Quaders. Während Alice verzweifelt verzauberte Hilfsmittel zu sich nimmt, die sie so lange riesenhaft wachsen und zwergenhaft schrumpfen lassen, bis sie endlich die richtige Größe hat, ist es für den hiesigen Besucher die eigene Imagination, die das Übertreten von Außen nach Innen ermöglicht.

 

Das Fenster fungiert als Scharnier zwischen visuell Fassbarem und dem lockenden Geheimnis des im Dunkel liegenden Inneren. Das Unerforschte öffnet seine Tore und löst die Grenze zwischen Vernunft und Fantasie auf. Damit verbindet der Künstler die Ebenen unterschiedlicher Seinszustände und regt die sensorische Erkundung verborgener, unbewusster Bilder an. Der Rezipient wird zum Seismograf für den Grad des eigenen Erlebens. Trotz subjektiver Betrachtungsweisen, eigenen Erinnerungsbildern, inneren Vorstellungen und der historischen Faktizität bleibt dem Betrachter ein Teil des Gesehenen verrätselt. Schubert betreibt eine Art Entstellung des Raum-Zeit-Kontinuums und bietet dem Betrachter stattdessen Räume an, die die klare Trennung zwischen Innen und Außen aufheben. Im übertragenen Sinne ist hier ein vor- und rückwärtsgerichteter Blick eingefangen, der in der Gesamtschau den Status quo des Raums und seiner Nutzung abbildet.

 

© Nadia Ismail 2013

“The folds are lightless pictures; there is no light portrayed.
It is neither night nor day, and no natural or artificial light dominates the interiors or landscapes; it is a state of irreal, time-suspended neutrality. Everything is placed in an even nonlight, immersed in the same lightness or the same darkness.
The folds are completely dependent on the light in the viewing room, appropriating – like a mirror – it’s fall, temperature and intensity. It is this real lighting that first generates the real nuanced shadows, and it is these light reflections on the folds in the paper that make it into a minimaly low-relief; they form themselves into a picture, a photo.
First via this borrowed light the changes through the day’s progession or in the come-and-go shine of artificial lighting, due the landscapes, architecture and faces become visible and invisible.”

 

Jens Peter Koerver about Simon Schubert’s folds in
“Other Persons, Other Places”